Von Martin Munke
Am 31. Januar 2025 wurden im Open Science Lab der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden die Ergebnisse eines Projektes zur „Datenübernahme und Präsentation des Zeitschriften-Samisdat in der DDR“ präsentiert. Die Abendveranstaltung schloss einen ganztägigen Workshop zum Thema mit Akteurinnen und Akteuren aus Tschechien, Polen, Russland und Deutschland ab. Unter Samisdat (russ. cамиздат) wird gemeinhin die „die Verbreitung von alternativer, nicht systemkonformer, zumeist verbotener ,grauer‘ Literatur über nichtoffizielle Kanäle“ (Wikipedia) in den staatsozialistischen Ländern des (aus westlicher Perspektive) sog. Ostblocks verstanden. Dem nichtoffiziellen Charakter dieser Dokumente entsprechend, ist ihre Überlieferungslage und Verfügbarkeit bis heute oft schwierig. Auch daher kommt z. B. dem „DDR-Samisdat in seiner Bedeutung und Rezeption […] noch nicht der Stellenwert zu, den er nach der Einschätzung der damaligen Protagonisten, Zeitzeugen und auch der heutigen Wissenschaft haben müsste“ (sachsen.digital).
Bereits Anfang der 2000er Jahre wurde durch eine Förderung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Stiftung Sächsische Gedenkstätten am damaligen MitteleuropaZentrum der Technischen Universität Dresden (heute: Zentrum Mittleres und Östliches Europa) ein Projekt zur Digitalisierung der periodisch erscheinenden Samisdat-Zeitschriften der DDR realisiert. Damit konnten sie erstmals einer breiteren Öffentlichkeit zugänglichgemacht werden.1 Zur Sicherung der damaligen Ergebnisse erfolgte nun die Übernahme des Datenbestandes in das von der SLUB betriebene Portal sachsen.digital. Ermöglicht wurde dies wiederum durch die Unterstützung der Stiftung Aufarbeitung. Auf Saxorum führt eine Themenseite in den Bestand ein und listet weiterführende Literatur auf. Anlässlich der öffentlichen Präsentation durfte ich am Beispiel Sachsen einige Gedanken zu den Potentialen der Samisdat-Literatur als möglicher Quelle für die landes- und regionalhistorische Forschung beisteuern. Sie sollen im Folgenden dokumentiert werden, ergänzt um einige Literaturhinweise.
Die Bezüge von Samisdat in seinen verschiedenen Zusammenhängen gehen natürlich weit über diese Kontexte hinaus. Meines Erachtens bieten sich aber gerade für die Landes- und Regionalgeschichte einige Anknüpfungspunkte, die bei weitem noch nicht ausgeschöpft sind. Das hängt auch damit zusammen, dass diese Perspektive auf den Samisdat nicht unbedingt üblich ist. Zumeist wird er in literatur-, kultur- und politikwissenschaftlichen Zusammenhängen untersucht.2 Ausgangspunkt der Überlegungen ist ein Beispiel aus dem Samisdat-Bestand auf sachsen.digital, der sich auf die Kirchgemeinde Pauli-Kreuz in der aktuellen europäischen Kulturhauptstadt Chemnitz bzw. im damaligen Karl-Marx-Stadt bezieht. Konkret geht es um die Kreuzkirche und ihr Umfeld auf dem Kaßberg.3 Diese wurde 1935/36 durch Otto Bartning erbaut, der vor allem durch seine Notkirchen bekannt ist. Im März 1945 wurde sie bei den Luftangriffen auf Chemnitz zerstört, im Gegensatz zu anderen Kirchenbauten mit ähnlichem Schicksal jedoch nicht abgetragen, sondern bis 1954 wiederaufgebaut, unter großem Einsatz der Gemeindemitglieder. Die St.-Pauli-Kreuz-Gemeinde war bald im Visier der Staatssicherheit, wie z. B. Berichte aus den Jahren 1967/68 zeigen. Besonders in den Foku gerieten dabei die Jugendgottesdienste und ihre befürchtete Einflussnahme auf eine als ideologisch so wichtig betrachtete jüngere Generation.4
Im Samisdat-Bestand finden sich mehrere Publikationen, die mit einem Friedenfest im November 1986 und einem Sommerfest im Juli 1987 zwei Veranstaltungen in der Gemeinde aus der zweiten Hälfte der 1980er Jahre thematisieren. Anhand dieser Publikationen möchte ich zunächst drei Punkte verdeutlichen, die Potentiale des Bestandes gerade in landes- und regionalhistorischer Perspektive aufzuzeigen vermögen. Ein abschließender vierter Punkt hängt dann allgemein mit der Digitalisierung des Bestandes zusammen und ist nicht spezifisch für diesen disziplinären Zugriff.
- Friedensfest Kreuzkirche 15.11.1986, Titelseite (Vorlage: Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., Digitalisat: TU Dresden/SLUB Dresden)
- Kreuzkirche Sommerfest 3./4. July [1987], Titelseite (Vorlage: Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., Digitalisat: TU Dresden/SLUB Dresden)
Der erste Punkt geht von der Tatsache aus, dass wir uns in Chemnitz/Karl-Marx-Stadt befinden. Einerseits kann der Blick auf den Samisdat ganz allgemein Beiträge zu einer Stadtgeschichts- (als Teil der Landesgeschichts)-Schreibung leisten, die über die üblichen Eckpunkte vor allem der Politik- und Wirtschaftsgeschichte hinausgeht, und die sozial- und gesellschaftshistorische Perspektiven eröffnen kann. Andererseits wird die Geschichte der Opposition in der DDR5 bis heute, trotz vieler Bemühungen um Ergänzungen, vor allem aus einer Berliner und einer Leipziger Perspektive geschrieben. In Sachsen bzw. mit Blick auf die drei sächsischen Bezirke in der DDR kommen dann allenfalls noch Dresden und Plauen hinzu, wo die allgemeine Bekanntheit entsprechender Aktivitäten und Ereignisse noch etwas höher ist. Betrachtet man z. B. die Karte der „Orte der deutschen Demokratiegeschichte“ der gleichnamigen Stiftung des Bundes, finden wir in Sachsen 10 solcher Orte in Leipzig, acht in Dresden, und dann mit der Friedlichen Revolution noch einen in Plauen sowie dem Deutschen Genossenschaftsmuseum im Schulze-Delitzsch-Haus einen im nordsächsischen Delitzsch – mehr nicht.
Der Befund zeigt sich auch mit Blick auf den digitalisierten Bestand, wo wir für Leipzig und Dresden die bei weitem höchsten Trefferzahlen bei einer Recherche erzielen. Aber selbst die deutlich darunterliegenden Ergebnisse für eben Plauen, Karl-Marx-Stadt oder andere Kommunen zeigen, dass Opposition und Aufbrüche nicht nur in den zentralen Großstädten stattfanden, sondern sich auch andernorts Menschen aufmachten und an einer neuen Zukunft für sich und die Gesellschaft, in der sie lebten, mitwirken wollten.6 Eindrücklich zeigt dies auch die Publikation der Umweltbibliothek Großhennersdorf zur Zittauer Oppositionszeitschrift „Lausitzbotin“7, von der nun eine Ausgabe online verfügbar ist. Der Blick auf den Samisdat kann also helfen, ein facettenreicheres und regional differenziertes Bild der inneren Geschichte der einzelnen Bezirke der DDR zu zeichnen – gerade mit Blick auf die Geschichte und das Funktionieren von Demokratie, zumal in Sachsen. Manchmal finden wir Ansatzpunkte dazu in kleinen Ausschnitten wie dem folgenden aus dem Impressum der Publikation zum Sommerfest: Dass die in den einzelnen Beiträgen aufscheinende Meinungsvielfalt akzeptiert wird und möglich ist, war zu DDR-Zeiten natürlich keine Selbstverständlichkeit:

Kreuzkirche Sommerfest 3./4. July [1987], S. 27
(Vorlage: Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., Digitalisat: TU Dresden/SLUB Dresden)
- Friedensfest Kreuzkirche 15.11.1986, S. 24 (Vorlage: Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., Digitalisat: TU Dresden/SLUB Dresden)
- Kreuzkirche Sommerfest 3./4. July [1987], S. 19 (Vorlage: Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., Digitalisat: TU Dresden/SLUB Dresden)
Häufig zeigt sich, dass sich bei damals schon vorhandenem Wissen bis heute wenig geändert hat. Interessant ist diese Perspektive vor allem auch, wenn die konkreten Umstände vor Ort thematisiert werden und die Samisdat-Literatur so zu einer spezifisch regionalen Umweltgeschichte beitragen kann.
Ein zweites Beispiel ist die Geschlechtergeschichte.10 Die Frage nach der kulturellen Prägung von Geschlechterrollen hat sich zu einer Herangehensweise entwickelt, die in allen Teilbereichen der Geschichtswissenschaft zur Anwendung kommen kann. Im landes- und regionalhistorischen Bereich gibt es für Sachsen nur eine sehr überschaubare Anzahl von Forschungsarbeiten und Protagonistinnen, die entsprechende Ansätze fruchtbar gemacht haben – aktuell etwa das Projekt „frauenorte sachsen“ des Landesfrauenrates11 oder „Auf die Straßen(schilder), fertig, los! Frauen* im Dresdner Stadtbild“ des Dresdner Frauen*stadtarchivs12. Die zugehörigen Karten zeigen wiederum nur vereinzelte Marker und noch viele freie Flächen, zu deren Füllung es einige Ansatzpunkte im Samisdat-Bestand gibt. Hier nur zwei Beispiele aus unserem Karl-Marx-Städter Kontext – eine Grafik, die wir unter dem Stichwort Intersektionalität analysieren könnten, und einen Text zu Alltagserfahrungen von homosexuell orientierten Jugendlichen im damaligen öffentlichen Raum:
- Kreuzkirche Sommerfest 3./4. July [1987], S. 4 (Vorlage: Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., Digitalisat: TU Dresden/SLUB Dresden)
- Kreuzkirche Sommerfest 3./4. July [1987], S. 23 (Vorlage: Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., Digitalisat: TU Dresden/SLUB Dresden)
Schließlich zeigt – der dritte Punkt – der Blick auf die Samisdat-Literatur auch, dass Landes- und Regionalgeschichte nie in exakt abzugrenzenden Räumen, sondern immer in übergreifenden Bezügen und nicht losgelöst von allgemeinen Entwicklungen stattfindet. Dies zeigt sich schnell an den beiden thematisch-methodischen Perspektiven aus dem vorherigen Punkt: Geschlechter- und Umweltgeschichte. So fand im April 1988 ein 5. DDR-weites Frauenfest in Karl-Marx-Stadt statt, das regionale und überregionale Fragen miteinander verband:

Lila Band [4] 1988, S. 14 (Vorlage: GrauZone – Archiv der ostdeutschen Frauenbewegung, Digitalisat: TU Dresden/SLUB Dresden)
- Arche-Info Nr. 1, 1989, Region Sachsen – Sachsen/Anh., S. [1] (Vorlage: Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., Digitalisat: TU Dresden/SLUB Dresden)
- Arche-Info Nr. 1, 1989, Region Sachsen – Sachsen/Anh.(Vorlage: Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., Digitalisat: TU Dresden/SLUB Dresden)
Dabei werden Beziehungen deutlich, die in anderen Quellen nur schwer fassbar sind, und die uns hier die Bedeutung des Austauschs und der Kontakte aufzeigen können. Dies gilt nicht nur für die damals so genannten Bruderländer, sondern auch für das ebenfalls so genannte nicht-sozialistische Ausland. Das Heft zum Sommerfest etwa bezieht sich an einer Stelle auf die hauptsächlich in Köln und Hamburg wirkende Theologin und Schriftstellerin Dorothee Sölle:

Kreuzkirche Sommerfest 3./4. July [1987], S. 26 (Vorlage: Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., Digitalisat: TU Dresden/SLUB Dresden)
- Vgl. im Zusammenhang Matthias Buchholz u.a. (Hg.): Samisdat in Mitteleuropa. Prozeß – Archiv – Erinnerung, Dresden 2007. [↩]
- Eine Literaturauswahl mit Fokus auf Ostmitteleuropa findet sich auf der Themenseite auf Saxorum, https://www.saxorum.de/themen/politischer-samisdat-in-der-ddr. [↩]
- Vgl. Tilo Richter: Die Kreuzkirche in Chemnitz-Kaßberg. Ein Bau von Otto Barning. 1936-1996, Chemnitz 1996. [↩]
- Vgl. Versuche der Kirche mit “modernen Formen” der Jugendarbeit, 23. Juli 1968. Einzelinformation Nr. 776/68 über verstärkte Versuche der Kirche, durch »moderne Formen« kirchlicher Jugendarbeit größeren Einfluss auf Jugendliche zu gewinnen. In: Daniela Münkel (Hg.): Die DDR im Blick der Stasi, Online-Edition, https://www.ddr-im-blick.de/jahrgaenge/jahrgang-1968/report/versuche-der-kirche-mit-modernen-formen-der-jugendarbeit/; siehe auch Richter: Kreuzkirche, S. 5. [↩]
- Vgl. grundlegend Ehrhart Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989. 2., durchges. und erw. Aufl., Berlin 1998; Eberhard Kuhrt in Verbindung mit Hannsjörg F. Buck und Gunter Holzweißig (Hg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft, Opladen 1999; zuletzt aus Erfahrungsperspektive Stephan Krawczyk: Gelöste Stimmen. Berichte vom Widerstehen in der DDR, Berlin 2023. [↩]
- Vgl. auch Kerstin Engelhardt/Norbert Reichling (Hg.): Eigensinn in der DDR-Provinz. Vier Lokalstudien über Nonkonformität und Opposition, Schwalbach/Ts. 2011 u. a. mit einem Beispiel aus Aue. [↩]
- Umweltbibliothek Großhennersdorf/Der Sächsische Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (Hg.): Lausitzbotin. Das Jahr 1989 in der sächsischen Provinz im Spiegel einer Zittauer Oppositionszeitschrift. Mit einer Studie von Arnaud Liszka, Bautzen 1999; im Zusammenhang auch Arnaud Liszka: Versuche, in der Wahrheit zu leben. DDR Südost – Nichtanpassung und Opposition in der Oberlausitz. Interviews, Dresden 2009 [↩]
- Vgl. einführend Patrick Kupper: Umweltgeschichte, Göttingen 2021, https://doi.org/10.36198/9783838557298; Bernd Herrmann: Umweltgeschichte. Eine Einführung in Grundbegriffe. 2., überarb. u. verb. Aufl., Berlin/Heidelberg 2016, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48809-6. [↩]
- Vgl. Werner Bätzing: Homo destructor. Eine Mensch-Umwelt-Geschichte. Von der Entstehung des Menschen zur Zerstörung der Welt, München 2023. [↩]
- Vgl. einführend Claudia Opitz-Belakhal: Geschlechtergeschichte. 2., aktualisierte und erweiterte Aufl., Frankfurt am Main/New York 2018; in landeshistorischer Perspektive knapp Sylvia Schraut: Geschlechtergeschichte und Landesgeschichte in der Verschränkung. Eine Einführung. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 166 (2018), S. 403-406, https://doi.org/10.57962/regionalia-16917. [↩]
- Vgl. Landesfrauenrat Sachsen (Hg.): Frauenorte Sachsen. Eine Entdeckungsreise durch die sächsische Frauengeschichte, Dresden 2023; ders. (Hg.): 5 Jahre Frauenorte Sachsen. Jubiläumsbroschüre, Dresden 2021, https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:14-qucosa2-872562. [↩]
- Vgl. Friederike Berger/Sarah Thomas (Hg.): Auf die Straßen(schilder), fertig, los! Frauen* im Dresdner Stadtbild, Dresden/Niederjahna 2024. [↩]
- Vgl. einführend Karoline Döring u.a. (Hg.): Digital history. Konzepte, Methoden und Kritiken digitaler Geschichtswissenschaft, Berlin/Boston 2022, https://doi.org/10.1515/9783110757101; als Überblick der bis 2020 erschienenen Einführungsliteratur Mareike König: Die digitale Transformation als reflexiver turn: Einführende Literatur zur digitalen Geschichte im Überblick. In: Neue Politische Literatur 66 (2021), S. 37-60, https://doi.org/10.1007/s42520-020-00322-2. [↩]
- Vgl. im Zusammenhang jetzt Stephan Bickhardt/Maria Nooke/Peter Ulrich Weiß (Hg.): Stimmen aus der Verbotszone. Texte und künstlerische Arbeiten der DDR-Opposition in den „radix-blättern“, Berlin 2024; zu in der Gestaltung ähnlichen Publikationen aus der Bundesrepublik, auf die auch während der Veranstaltung hingewiesen wurde, vgl. Jan-Frederik Bandel/Annette Gilbert/Tania Prill (Hg.): Unter dem Radar. Underground- und Selbstpublikationen 1965-1975, Leipzig 2017. [↩]
OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Martin Munke (4. Februar 2025). Samisdat-Literatur als Quelle für die landes- und regionalhistorische Forschung? Saxorum. Abgerufen am 20. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/138or