Von Andreas Rutz
Ist Essen eine Kunst? Vielleicht nicht, aber: Beim Essen verleiben wir uns mit allen Sinnen ein Gesamtkunstwerk ein, das in der Küche aus unterschiedlichsten Produkten zubereitet, zu Tellern und Menüs arrangiert und in einem mit Licht, Klang und Tischzeug gestalteten Rahmen serviert wird. Dieses „Gesamtkunstwerk Essen“ wurde im Sommersemester 2024 in einer Ringvorlesung diskutiert, die von der TU Dresden (Andreas Rutz / Josef Matzerath, Institut für Geschichte, Lehrstuhl für Sächsische Landesgeschichte) in Kooperation mit der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) durchgeführt wurde.
Die Ringvorlesung beschäftigte sich in einem interdisziplinären Zugriff mit der Geschichte und Gegenwart der Kochkunst. Es ging dabei weniger um die sogenannte Sättigungsküche, also Ernährung zwecks Energiezufuhr und Aufrechterhaltung der vitalen Körperfunktionen. Vielmehr wurden die Auswahl der Lebensmittel, die auf den Eigengeschmack ausgerichtete Zubereitung, das Arrangement von Tellern, Gläsern und Besteck, das Ambiente beim Essen und die Verkostung selbst als künstlerische Praxis und ästhetisches Prinzip diskutiert. Wie andere Künste auch folgt die Kochkunst einerseits kunstimmanenten Logiken und steht andererseits in einer Wechselbeziehung mit den gesellschaftlichen Prozessen der Zeit, was die Kulinarik für interdisziplinäre kulturwissenschaftliche Forschungen überaus spannend macht.

Harald Lemke zum Abschluss der Ringvorlesung am 3. Juli 2024
Die Veranstaltung brachte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen sowie Expertinnen und Experten aus Wirtschaft, Politik, Tourismus, Kunst und Journalismus zusammen, um einzelne Facetten des Themas zu diskutieren. Jede Veranstaltung setzte sich aus einem Hauptvortrag und einer anschließenden Podiumsdiskussion mit weiteren Gästen zusammen, die auch für Publikumsfragen geöffnet wurde.
Andreas Rutz, Josef Matzerath (Dresden): Einführung in die Kulinarik und ihre Geschichte in Dresden
Den Auftakt bildete eine „Einführung in die Kulinarik und ihre Geschichte in Dresden“ (17. April 2024). Josef Matzerath und Andreas Rutz (TU Dresden) erläuterten zunächst die grundsätzliche Frage, was Essen und Kulinarik in kulturwissenschaftlicher Hinsicht darstellen und leiteten daraus drei Forschungsfelder ab, die sowohl gegenwartskulturell als auch historisch sowie für unterschiedliche kulturelle Kontexte zu untersuchen seien: 1. die Erforschung von Essen und die Praktiken der Nahrungsaufnahme als solche, 2. die Bedeutung des Essens im sozialen und kulturellen Kontext und 3. Essen als ästhetische Praxis. Darüber hinaus befasste sich der Vortrag mit dem gegenwärtigen Forschungsstand in den historisch arbeitenden Geisteswissenschaften sowie den Methoden ernährungshistorischer Forschung von der Archiv- und Quellenarbeit über die Erforschung der materiellen Kultur bis hin zum Zeitzeugeninterview.
Thomas A. Vilgis (Mainz): Geschmack und Aroma: Molekulare Ästhetik des Essens
Panel: Thomas Hummel, Michael Hellwig (Dresden)
In der folgenden Sitzung stand mit „Geschmack und Aroma“ die „molekulare Ästhetik des Essens“ im Mittelpunkt (24. April 2024). Der Vortrag von Thomas Vilgis (Max-Planck-Institut für Polymerfoschung Mainz) zeigte, dass Essen, also das Verarbeiten von Lebensmitteln im Mund oder „orales Prozessieren“, wie er es nennt, viel komplizierter ist als gedacht. In unserer Mundhöhle nehmen wir eine ganze Reihe von physikalisch-chemischen und sensorischen Eigenschaften wahr, die erst unser Gehirn zu einem Bild zusammensetzt, das wir bewerten. Dieser ‚Geschmack‘ steuert unsere Ernährung, sowohl mit Blick auf die Lebensmittelsicherheit als auch mit Blick auf Nahrhaftigkeit und nicht zuletzt Genuss. Vilgis‘ Vortrag erörterte die molekulare Welt des Genusses von der Veränderung der mechanischen Eigenschaften, der Textur, über die Freisetzung von Geschmack und Aroma bis hin zum Schlucken. Dabei wurde gezeigt, wie auch scheinbar einfache Lebensmittel durch die richtige Zubereitung zu einem großen Genuss werden können. Im Anschluss diskutierten auf dem Podium Thomas Hummel (Interdisziplinäres Zentrum für Riechen und Schmecken am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden) und Michael Hellwig (TU Dresden) und erweiterten die Perspektive um medizinisch-physiologische und lebensmittelchemische Aspekte.
Daniel Deckers (Frankfurt am Main): Was ist Wein? Antworten aus dem langen 19. Jahrhundert
Panel: Klaus Zimmerling (Pillnitz), Christoph Lundgreen (Dresden)
„Was ist Wein?“ lautete die Frage, die Daniel Deckers (Hochschule Geisenheim University / Frankfurter Allgemeine Zeitung) in der dritten Sitzung aufwarf und auf die er „Antworten aus dem langen 19. Jahrhundert“ gab (8. Mai 2024). Deckers zeichnete die Geschichte des Weins seit dem späten 18. Jahrhundert nach und gab zum einen anhand des Weinkonsums des preußischen Hofes Einblick in die Trinkgewohnheiten und die Festkultur der Zeit, aber auch deren ökonomische und logistische Bedingungen. Zum anderen zeigte er die Konsequenzen der aus den USA importierten Schädlinge wie Mehltau und Reblaus auf, die den europäischen Weinbau im 19. Jahrhundert in eine existenzielle Krise stürzten, bis neue technische Methoden um die Wende zum 20. Jahrhundert die vinologische Moderne einleiteten. Diese sicherte den traditionellen Anbaugebieten Europas ihre Stellung, beförderte zugleich aber die Entwicklung einer globalen Weinbaukultur. Bei der von Christoph Lundgreen (TU Dresden) moderierten Podiumsdiskussion mit dem Referenten und Klaus Zimmerling (Weingut Klaus Zimmerling, Pillnitz) wurden neben historischen Perspektiven auch Fragen der Weinkultur der Gegenwart und der Herausforderungen des aktuellen Weinbaus diskutiert.
Elisabeth Tiller (Dresden): Die Küche Italiens im 19. und frühen 20. Jahrhundert
Panel: Gisela Reetz, Gisela Hürlimann (Dresden)
„Die Küche Italiens im 19. und frühen 20. Jahrhundert“ stand im Mittelpunk des Vortrags von Elisabeth Tiller (TU Dresden) (15. Mai 2024). Ausgehend von der in Italien heftig geführten Diskussion um Alberto Grandis kürzlich ins Deutsche übersetztes Buch „Mythos Nationalgericht. Die erfundenen Traditionen der italienischen Küche“ wurde dargelegt, dass Essen in Italien seit der Moderne ein Medium kultureller Verhandlungen ist. Nach der politischen Einheit 1861 gerieten die vielfältigen Regionalküchen der italienischen Halbinsel sukzessive in den Sog der Nationalisierung, die mit der Generierung einer nun eingeforderten nationalen Identität einherging. Die Zubereitung von Nahrungsmitteln wurde politisiert, zunehmend aber auch zu einer Frage der Wissenschaft. Exemplarisch hierfür steht Pellegrino Artusis „La scienza in cucina e l’arte di mangiar bene“ von 1891, in dem regionale kulinarische Traditionen zusammengeführt und als ‚italienisch‘ markiert wurden. Die Futuristen stilisierten im frühen 20. Jahrhundert das Kochen zu einer modernen Kunstform und kokettierten vor der Folie des Faschismus mit dem diesbezüglichen Nationalismus. Tiller rekonstruierte diese Entwicklung insbesondere aus zeitgenössischen Kochbüchern und kulinarikbezogenen Publikationen. In der Podiumsdiskussion diskutierte die Referentin mit Staatssekretärin Gisela Reetz (Sächsisches Staatsministerium für Energie, Klimaschutz, Umwelt und Landwirtschaft) und Gisela Hürlimann (TU Dresden) über die Essmythen Italiens, aber auch Sachsens sowie die Möglichkeiten und Fallstricke, die die Stärkung einer regionalen kulinarischen Identität bieten können.
Samuel Wittwer (Potsdam): Blumen, Schwäne, Wappen. Zur Ästhetikgeschichte des Tellers
Panel: Stefanie Hering (Berlin), Nikolai Wojtko (Köln)
Mit dem Vortrag von Samuel Wittwer (Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, Potsdam) zum Thema „Blumen, Schwäne, Wappen. Ästhetikgeschichte des Tellers“ (29. Mai 2024) wandte sich die Ringvorlesung den sinnlich wahrnehmbaren, aber nicht konsumierbaren Objekten der Tafelkultur zu. Kaum ein anderes Element einer gedeckten Tafel steht so symbolhaft für die Tafelkultur wie der Teller. Während sich die Funktion des Tellers seit Jahrhunderten kaum änderte, birgt dieser in der Wahl von Material, Form und Dekor enorme Gestaltungsmöglichkeiten, die zugleich Botschaften vermitteln. Insofern ist jeder Teller ein ästhetisches Medium, das zwischen einfacher Zurückgenommenheit einerseits und komplexer Symbolik andererseits stets über den Gastgeber und/oder den Anlass des Mahls informiert. Mit der relativ jungen Einführung des Tellerservice in die gehobene Küche kam dem Teller als Partner der angerichteten Speise eine neue Aufgabe zu. Während Farbe, Form und Textur schon längst zum Kanon der Grundkomponenten einer kulinarischen Ästhetik gehörten, forderte eine kulinarische Gesamtkomposition dies auch unterstützend – oder inspirierend – vom Teller. Chancen und Risiken dieses Zusammenspiels wurden im Anschluss auf dem Podium mit Stefanie Hering (Porzellanmanufaktur „Hering – Berlin“) und Nikolai Wojtko (Agentur für Gastrosophie, Köln) vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen in der exquisiten Küche diskutiert.
Marcus Köhler (Dresden): Vom Garten in die Küche: Ein Weg zwischen Gartenkultur und Kulinarik
Panel: Kathrin Franz (Leipzig), Annette Dorgerloh (Berlin)
Marcus Köhler (TU Dresden) begab sich in seinem Vortrag „vom Garten in die Küche“ und skizzierte „ein[en] Weg zwischen Gartenkultur und Kulinarik“ (5. Juni 2024). Im Mittelpunkt standen historische Methoden des Anbaus, der Zucht sowie der Lagerung und Konservierung von Obst und Gemüse. Schon der Küchengarten Ludwigs XIV. von Frankreich wies – einer Kunstsammlung gleich – eine unglaubliche Vielzahl an Pflanzen auf. Den eigentlichen Höhepunkt bildete jedoch das 19. Jahrhundert: die Frühtreiberei verschaffte im Mai frische Aprikosen, deutsche Ananas kamen auf den vornehmen Tisch und hunderte von Apfel- und Birnensorten überschwemmten die Märkte. Das Gartenprodukt und dessen spezifischer Geschmack wurden nun überhaupt erst entdeckt. In der Figur des hannoverschen Hofmarschalls und Gartenintendanten Ernst von Malortie (1804–1887) kulminierte dieser Höhepunkt: Küche und Garten fügten sich in seiner Zeit in das Gesamtkunstwerk eines inszenierten Hofes. Wie Köhlers Vortrag zeigte, wurden die Geschichte und Kultur der deutschen Küchengärten erst in den letzten Jahrzehnten wiederentdeckt und bieten vielfältige Forschungs-, aber auch Anwendungsmöglichkeiten. Diesen Aspekt führte im Anschluss Kathrin Franz (LandschaftsArchitektur Franz) aus, die ihre Projekte zur Rekonstruktion historischer Küchengärten und das von ihr mitgegründete Küchengartennetzwerk vorstellte. Die von Annette Dorgerloh (HU Berlin) moderierte Diskussion vertiefte diese historischen Perspektiven auf die landwirtschaftlichen und gärtnerischen Grundlagen der Kulinarik.
Katrin Stump, Andreas Rutz (Dresden): Das Deutsche Archiv der Kulinarik und die Kulinarikforschung in Dresden
Panel: Corinne Miseer, Matthias Gilbrich (Dresden)
Mit dem Vortrag „Das Deutsche Archiv der Kulinarik und die Kulinarikforschung in Dresden“ informierten Katrin Stump (SLUB Dresden) und Andreas Rutz (TU Dresden) über die aktuellen kulinarhistorischen Aktivitäten in Dresden (12. Juni 2024). Das 2022 von SLUB und TU Dresden gemeinsam gegründete „Deutsche Archiv der Kulinarik“ beherbergt einen großen Schatz an Quellen und Literatur zur Kochkunst und Ernährungsgeschichte vom 15. bis 21. Jahrhundert, darunter Handschriften und Bücher, aber auch Menükarten, Gebrauchsgrafik, Fotografien und audiovisuelle Medien. Das Archiv gehört zu den bedeutendsten seiner Art in Europa und macht Dresden zu einem zentralen Ort der Kulinarikforschung. Der Vortrag zeigte die Vielfalt, Größe und Bedeutung der Sammlung auf, erläuterte die sich aus den Beständen ergebenden Forschungsmöglichkeiten und skizzierte die Zielsetzungen des geplanten interdisziplinären Projekts „Geschmackswandel. Kulinarische Ästhetik und Gesellschaft im deutschsprachigen Raum vom späten 18. bis ins 21. Jahrhundert“. Die Podiumsdiskussion mit Corinne Miseer (Dresden Marketing) und Matthias Gilbrich (Sächsisches Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus) fokussierte sodann auf die Bedeutung von Restaurants und Sterneküche für den Tourismus und thematisierte Möglichkeiten für Archiv und Forschung zur Entfaltung öffentlicher Wirksamkeit, insbesondere in Gastronomie und Kochausbildung.
Nicolaj van der Meulen (Basel): Eine kulinarische Ästhetik am Beispiel der Suppe
Panel: Wolfgang Brassat (Bamberg), Doreen Mende (Dresden)
Der Vortrag von Nikolaj van der Meulen (Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel FHNW) war kunsthistorisch bzw. bildwissenschaftlich ausgerichtet und entwarf „eine kulinarische Ästhetik am Beispiel der Suppe“ (19. Juni 2024). Aufgrund der vielfältigen Überschneidungen von Kunst und Kulinarik problematisierte der Referent die ästhetischen, künstlerischen und philosophischen Fragen, die durch Kochen und Essen gestellt werden. Kaum ein anderes Nahrungsmittel berührt laut van der Meulen so viele Dimensionen des Alltags und der Kunst wie die Suppe. Das Verbinden heterogener Substanzen zu einer Einheit, der Umgang mit Resten, die Migration durch Kulturen manifestiert sich in den verschiedenen Zubereitungsformen dieser Speise. Die soziale und kulturelle Bedeutung von Suppe zeigt sich zudem in vielen Redewendungen und historischen Ereignissen. Kunstrichtungen wie der Kubismus und künstlerische Ausdrucksformen wie die Performance integrieren Suppen in ihre Werke. Experimente wie „Die Jahressuppe“ (2008/09) von Walter Meissl thematisierten konzeptuelle Fragen von Zusammensetzungen und Potenzen anhand einer Suppe, während Rirkrit Tiravanijas Suppe für die Pariser Triennale (2012) eine heftige Debatte um die Relationalität von Kunst auslöste. Suppen werden so gleichsam zu „Meta-“ oder „Über-Suppen“, die gesellschaftliche und ästhetische Diskurse bündeln und weiter vorantreiben. Die Podiumsdiskussion mit Wolfgang Brassat (Universität Bamberg) und Doreen Mende (Staatlichen Kunstsammlungen Dresden) schloss hier an und thematisierte neben der Eat Art als Teil der Hochkultur auch die vielfältigen, kulinarhistorisch spannenden Bilderwelten in breitenwirksamen Publikationen wie Kochbüchern.
Christine Ott (Frankfurt am Main): Schreibende Feinschmecker und gefräßige Leser: Literarische Einverleibungen in der Moderne
Panel: Roswitha Böhm, Simon Meier-Vieracker (Dresden)
Nach der bildenden Kunst wandte sich der Vortrag „Schreibende Feinschmecker und gefräßige Leser: Literarische Einverleibungen in der Moderne“ von Christine Ott (Goethe-Universität Frankfurt am Main) der (französischen) Literatur zu (26. Juni 2024). „Sage mir, was Du isst, und ich werde dir sagen, was du bist“, versprach 1829 der Feinschmecker Jean-Anthelme Brillat-Savarin in seiner vielgelesenen „Physiologie des Geschmacks“. Nur zwei Jahrzehnte später konterte der Religionskritiker Ludwig Feuerbach mit dem Motto: „Der Mensch ist, was er ißt“. Zwischen Brillat-Savarins protosoziologischer und Feuerbachs materialistischer Gastrosophie liegt die Selbstcharakterisierung des angehenden Schriftstellers Gustave Flaubert, der sich als „gourmet de style“ höhnisch vom plumpen Geschmack des Bürgertums absetzte. Der Vortrag ging den literaturgeschichtlich-ästhetischen und den philosophischen Hintergründen dieser Aussagen nach. Im Mittelpunkt stand dabei zum einen Flauberts alimentäre Poetik, die darauf abzielte die Vorgänge des Schreibens zu objektivieren und anhand der Gleichsetzung von Kochen und Schreiben letzteres zu optimieren. Zum anderen zeigte Ott, dass es auch in Marcel Prousts berühmter Madeleine-Episode um weit mehr geht als eine Theorie der unwillkürlichen Erinnerung, sondern vielmehr über den Zusammenhang von Essen und Erinnerung die Frage nach dem Wesenskern des Ich verhandelt wird. In der anschließenden Podiumsdiskussion wurde der Vortrag von Roswitha Böhm (TU Dresden) und Simon Meier-Vieracker (TU Dresden) kommentiert und mit der Referentin diskutiert. Dabei wurde die Perspektive unter anderem um das Thema Gender und Kochen, das in der Literatur der Moderne eine nicht unerhebliche Rolle spielt, erweitert.
Harald Lemke (Hamburg/Salzburg): Gastrosophie in der Moderne
Panel: Andreas Rutz, Ursula Staudinger (Dresden)
Der Abschluss der Ringvorlesung war der „Gastrosophie in der Moderne“ gewidmet, über die Harald Lemke (Hamburg/Universität Salzburg) referierte (3. Juli 2024). Der Vortrag skizzierte zunächst die historischen Ursprünge des gastrosophischen Diskurses der Moderne. Dieser reicht bis in die Antike zurück, wo die zwei grundsätzlichen Positionen der europäischen Philosophie zum Essen entwickelt wurden, einerseits die – längerfristig dominante – der Antigastrosophen wie Platon, die den Geist im Blick haben, den Körper aber vernachlässigen bzw. bewusst als philosophisch unbedeutend abschreiben, und andererseits die der Gastrosophen wie Sokrates oder Epikur, die im Gastmahl eine philosophisch relevante Form der Soziabilität sehen. Ausgehend von der (wenig bekannten) Gastrosophie Immanuel Kants wurde für die Moderne eine genealogische Linie über den Kunsttheoretiker Friedrich von Rumohr, den Gourmetkritiker Brillat-Savarin, den Esskunsttheoretiker Antonius Anthus sowie den Erfinder der deutschsprachigen Gastrosophie Friedrich von Vaerst bis hin zu den zentralen Positionen der Philosophen Ludwig Feuerbach und Friedrich Nietzsche rekonstruiert. Der zweite Teil des Vortrags widmete sich der philosophischen Weiterentwicklung dieser Anfänge sowie der gesellschaftlichen Aktualität einer neuen Gastroethik. Die These, dass von der Gastrosophie wegweisende Impulse für die Zukunft der menschlichen Entwicklung auf der Erde ausgehen könnten, wurde im Anschluss auf dem Podium mit Andreas Rutz (TU Dresden) ebenso diskutiert wie die Frage nach der Notwendigkeit gastroethischer Prinzipien für die kulinarische Ästhetik. Die Rektorin der TU Dresden, Ursula Staudinger, die auf dem Podium mitdiskutieren wollte, war leider kurzfristig erkrankt.
Insgesamt bot die Ringvorlesung vielfältige Perspektiven auf das „Gesamtkunstwerk Essen“ und machte die Notwendigkeit einer interdisziplinären Erforschung der Kulinarik als Metathema menschlicher Gesellschaften deutlich.
Die einzelnen Vortragsveranstaltungen sind auf Youtube zum Nachschauen und -hören verfügbar und können über folgenden Link gesammelt abgerufen werden: https://www.slub-dresden.de/entdecken/veranstaltungen
Autor
Prof. Dr. Andreas Rutz ist Inhaber des Lehrstuhls für Sächsische Landesgeschichte an der Technischen Universität Dresden und Direktor des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde (ISGV). Studium in Bonn, Paris und New York, Promotion 2005 und Habilitation 2014 in Bonn, danach Lehrstuhlvertretungen in Münster, Bonn und Düsseldorf sowie eine Kurzzeitdozentur in Tokio/Japan. Seine Forschungsschwerpunkte sind die vergleichende Landes- und Stadtgeschichte sowie die Geschichte der Frühen Neuzeit.
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GastautorIn (14. Januar 2025). Gesamtkunstwerk Essen. Kulinarische Ästhetik interdisziplinär von 1800 bis heute: Eine Ringvorlesung mit Impulsen für die Kulinarikforschung in Dresden. Saxorum. Abgerufen am 19. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/132vl